Deutsche Meisterschaften der Leichtathletik: Warum das gegenwärtige System mit B-Normen und Teilnehmerlimits schädlich ist

Ich sorge mich um die Zukunft der Deutschen Leichtathletik. Und auch wenn es sicher viele Gründe gibt, warum es nicht besser läuft, ist ein zentrales hausgemacht: Die Zulassungspolitik für die Deutschen Meisterschaften. Dieses Nadelöhr sorgt jährlich dafür, dass Talente, Trainer und ganze Vereine sich aus dem Leistungssport verabschieden. Doch bei den Verantwortlichen scheint man in dieser Hinsicht blind zu sein. Hier denkt man: Solange die Stars glücklich sind, wen interessiert da die zweite Reihe? 

Viele der Personen, die sich für eine Veränderung einsetzen könnten, haben in meinen Augen nur wenig Vorstellung davon, was der Status Quo für zahlreiche Athleten und ihre Trainer bedeutet, die für die Leichtathletik brennen. An dieser Stelle fasse ich daher die wichtigsten Argumente gegen die gegenwärtige Praxis einmal zusammen und entkräfte die gängigsten Gegenargumente. In Zukunft ist es möglich, auf diesen Beitrag als Basis zu verweisen, um sich nicht immer wiederholen zu müssen.

Aber: Es wird weitere konstruktive Auseinandersetzung brauchen, denn es ist an der Zeit, die Probleme anzuerkennen und durch eine veränderte Praxis – feste Normen und mehr Teilnehmer ohne Höchstteilnehmerzahlen – zu adressieren.

Zunächst die Erklärung des Status Quo:

  • Es gibt für jede (Stadion)disziplin eine A- und eine B-Norm sowie ein Teilnehmerlimit. Wer die A-Norm schafft, ist sicher bei den Deutschen Meisterschaften dabei. Wer die B-Norm hat, erwirbt nur das Recht, sich zu melden. Ob er/sie dabei ist, ist davon abhängig, wie viele Athleten melden. Denn: Der DLV lässt nur eine vorbestimmte Anzahl an Athleten zu. Sind es mehr als das definierte Limit, werden die Sportler mit der schwächsten Meldeleistung gestrichen – obwohl sie die Norm erfüllt haben.

Warum das ein Problem ist:

  1. Athleten und Vereine haben keine Planungssicherheit. Sie erfahren zum Teil erst <72 Stunden vorher, ob sie zugelassen sind.
  2. Die Zulassung über die Platzierung im Ranking macht die Qualifikation stärker von Glück abhängig (z.B. Windbedingungen im Sprint, Pech durch Regen oder Hitze bei Lauf, etc.).
  3. Es wird Neid geschürt: Athleten können sich nicht gegenseitig über die Quali des anderen freuen, sondern müssen hoffen, dass andere schlechter bleiben als sie, um die eigenen Chancen zu verbessern. 
  4. Mangels Planungssicherheit ist kein leistungssportlicher Saisonaufbau möglich (Quali schaffen -> auf Höhepunkt hintrainieren), sondern es muss ggf. ständig versucht werden, die eigene Meldeleistung zu optimieren. Dem DLV sollte aber an vorbildlicher Saisonplanung gelegen sein und er sollte diese belohnen, nicht ihr Gegenteil. Insbesondere bei jungen Athleten, die in einem mehrjährigen Entwicklungsprozess stehen, behindert der Widerspruch zwischen kurz- und langfristigen Zielen so den Aufbau.
  5. Die mangelnde Planungssicherheit und die Qualifikation über die Bestenlisten sorgen in den Laufdisziplinen dafür, dass einseitig Meetings mit Tempomachern bevorzugt werden und Landesmeisterschaften und z.B. Norddeutsche/Süddeutsche Meisterschaften nicht mehr besucht werden, was diese massiv abwertet (Beispiel Süddeutsche 2025: nur 4 bzw. 3 Teilnehmer über 1.500/5.000 Meter)!
  6. Falscher Anreiz bei Leistungsgleichheit: Bei gleicher Meldeleistung wird bevorzugt, wer die Leistung zuerst erbracht hat. Ein Hochspringer, der im April seine SB sprang und sich dann beide Beine brach, würde also z.B. jemanden vorgezogen, der zum Meldeschluss, also zum Saisonhöhepunkt hin, seine SB springt. Auch das widerspricht sinnvoller Saisonplanung.
  7. Nachrücken nicht immer möglich: Es ist bereits häufig passiert, dass Athleten sich nicht abgemeldet haben und deshalb niemand nachrücken konnte. Es bleiben dadurch Startplätze frei, obwohl es Qualifikanten gibt, die antreten wollen. Auch gibt es keine Sanktionen für das Nicht-Abmelden. Theoretisch wäre es sogar möglich, mit Startplätzen zu „handeln“, sprich nur abzumelden, wenn man dafür vom Nachrücker Geld erhält.
  8. Ungerechtigkeit zwischen den Disziplinen: Die Teilnehmerlimits sind nicht für alle Disziplinen gleich. Während bei den technischen Disziplinen nur 14 Teilnehmer akzeptiert werden, sind es im Kurzsprint 40(!). Dadurch werden falsche Anreize geschaffen. Es ist lohnenswerter, der 40. beste Sprinter zu sein, als der 15. beste Weitspringer!
  9. Keine Vermarktbarkeit: B-Norm-Erfüllungen lassen sich nicht als “Quali für die DM” vermarkten, wenn es dann später heißen kann, dass man doch nicht dabei ist. Dies reduziert das öffentliche Interesse an starken Leistungen ungemein und verschlechtert die Möglichkeit, den Sport (lokal) zu vermarkten
  10. Demotivierender Effekt: Nichts ist demotivierender, als auf eine Norm hin trainiert zu haben, diese zu erfüllen, um dann doch nicht zugelassen zu werden. Betroffene Sportler erwägen regelmäßig, die Karriere zu beenden oder kürzer zu treten. Über eine B-Norm wird sich kaum gefreut, sondern sie wird direkt mit Zittern verbunden!

Der demotivierende Effekt und die mangelnde Planungssicherheit lassen sich in einigen Disziplinen klar erkennen: In den Deutschen Bestenlisten klafft dort eine große Lücke im Bereich der B-Normen. Bisweilen kommen nicht einmal mehr die maximalen Felder zusammen. Was von den Ausrichtern als Argument dafür aufgeführt wird, dass die Limits kein Problem darstellen, ist vielmehr ein Symptom dafür: Viele Sportler, zum Teil auch ihre Trainer oder ganze Vereine, kehren den Leistungssport nämlich den Rücken. Für sie steht der Aufwand, den auch eine B-Norm zu erfüllen bedeutet, nämlich in keinem Verhältnis zur Unsicherheit, ob man damit überhaupt zu den nationalen Titelkämpfen darf. 

Warum sollte jemand seine Urlaubsplanung und mehr auf den Sport ausrichten, um die Norm zu erfüllen, wenn er/sie dann womöglich doch nicht starten darf und man gleichzeitig auch mit 80% Engagement alle Titel auf regionaler Ebene gewinnen kann? Auch hier wird ein falscher Anreiz gesetzt.

Von DLV-Seite wird bisweilen bezweifelt, dass es Menschen gäbe, die ihre sportliche Motivation daraus ziehen, „nur mal bei Deutschen Meisterschaften dabei zu sein.” Doch diese Leute gibt es zuhauf. Sie träumen entsprechend ihrem Leistungsniveau genauso wie stärkere Athleten, die nie Olympiasieger werden, aber alles geben, nur um mal bei der Quali dabei zu sein! 

Das Beispiel führt zu einer Reihe an Gegenargumenten, welche die Ausrichter aufzählen, weshalb die engen Limits nötig seien. Diese lassen sich jedoch leicht entkräften. 

Eine Auswahl an Gegenargumenten, die nicht ziehen:

  • Die Limits sind nötig, um die TV-Zeiten einzuhalten:
    Wenn dies so wäre, müssten die Limits auch für A-Normen gelten. Es ist aber sehr wohl möglich, dass es mehr A-Norm-Erfüller oder selbige plus Sonderzulassungen gibt, sodass die Limits überschritten werden. Dann ist dies aber angeblich kein Problem! Außerdem sorgen auch z.B. Fehlstarts, Regenunterbrechungen und sogar regelmäßig das Überziehen bei Ehrungen für Funktionäre dafür, dass der Zeitplan nicht genau eingehalten wird! Außerdem überträgt das TV nur die Finals. Vorrunden wären davon gar nicht betroffen!
  • Es sind keine Vorkämpfe/weiteren Vorläufe möglich:
    Ab den 800 Metern sind sogar bei gleicher Anzahl an Läufen mehr Teilnehmer möglich (800 Meter: geplant 3 Läufe a 8 Personen – dabei ist Doppelbesetzung von Bahnen üblich. 1.500 Meter: geplant 2 Läufe a 15 Personen – der DLV ließ bei der DM-Staffel 18 3x1000m-Teams gleichzeitig starten. 3.000 Meter Hindernis: geplant 1 Lauf a 16 Personen: Bei Rupperts Deutschen Rekord in der Diamond League waren 21 Personen am Start!)
    Außerdem: Das Argument basiert weiter auf der Behauptung, der Zeitplan wäre so eng. Mittlerweile ist die DM jedoch seit langem wieder dreitägig und würde Vorkämpfe und Vorläufe am Freitag ermöglichen.
  • Die Meisterschaft ist sonst nicht planbar
    Jede(!) andere Meisterschaft, inkl. DM-Jugend, kommt ohne Teilnehmerlimits aus – und endet nicht in massiven Zeitplanverzügen. Auch normale Normen bringen eine relativ hohe Planungssicherheit und nur minimale Schwankungen bei den Teilnehmerzahlen. Das gilt übrigens auch für die Jugend-Langstaffeln, die Teil der DM Männer/Frauen sind und wo zum Glück keine Limits existieren!
  • Das “Produkt DM” erwirtschaftet sonst weniger Geld oder wird durch weitere Athleten unattraktiv
    Oft wird darauf verwiesen, dass die Deutschen Meisterschaften dem DLV große Einnahmen verschaffen und man diese nicht durch mehr Athleten gefährden dürfe. Hier ist es wichtig zu betonen: Es ist nicht so, dass durch die Verknappung bei der DM mehr Geld im Sport ist – es ist nur woanders. Den Einnahmen für die DM stehen Einnahmeeinbußen bei zahlreichen Vereinen gegenüber, weil sie nicht die Präsentationsfläche DM haben, die ihnen wiederum Sponsoring-Einnahmen und Mitgliederwachstum verschafft. Eine auf wenige Stars ausgerichtete DM ist vor allem eine Umverteilungsmaschine von unten nach oben!
    Außerdem sind weniger Teilnehmende für Sponsoren und Zuschauer nicht zwingend attraktiver. Bestes Beispiel sind hier die City-Marathons, die gerade durch die Masse begeistern, nicht durch die wenigen Stars!

Die Teilnehmerlimits sind nicht nur durch ihre Ausgestaltung ein Problem. Auch die geringe Anzahl an zugelassenen Teilnehmenden insgesamt schwächt die Leichtathletik. Es sollten dringend mehr Startplätze geschaffen werden:

Argumente für mehr Teilnehmende insgesamt: 

  • Mehr Werbung für die Leichtathletik als das kurze TV-Fenster der DM machen die Teilnehmenden selbst. Nachwievor ist jeder “Dorfverein” stolz auf “seinen” DM-Teilnehmer, selbst wenn er Letzter wird. Dieser schafft Identifikation und sorgt für Nachwuchs und Sponsoren vor Ort – wo das Geld am nötigsten ist!
  • Die Mini-Felder aktuell sorgen dafür, dass sogar Athleten, die Perspektive auf eine Spitzenkarriere haben, demotiviert werden, keine Erfahrung sammeln können und keine Präsenz haben: Selbst Erfüller der U20-EM-Norm(!) würden aktuell nicht zur DM der Männer/Frauen zugelassen!
  • Gleiches gilt für ältere Athleten, die ideale Trainingspartner für Spitzen-Jugendathleten wären, so aber mangels Perspektive aufhören
  • Damit gehen uns Trainingsgruppen verloren, die Quelle für die Talente von morgen sein können. Denn es ist nicht so, dass sich Ehrenamtliche Trainer, wenn Athleten der zweiten Reihe wegbrechen, mehr Zeit für Toptalente hätten. Um diese Talente überhaupt zu entdecken und zu binden braucht es starke Trainingsgruppen vor Ort!
  • Stattdessen reduzieren gegenwärtig auch Trainer frustriert ihr Engagement, statt Erfahrungen zu sammeln. Wo sollen die Talente entdeckt und ausgebildet werden, wenn es zum Teil nur 3-4 Trainingsgruppen zur DM schaffen? In der gegenwärtigen Situation brechen dauerhaft ganze Standorte weg!
  • Auch Spitzenkräfte müssen lernen, möglichst energiesparend und verlässlich durch Vorläufe oder Qualifikationen zu gelangen. Eine Qualität, die Nationalmannschaftsathleten regelmäßig bei WM/EM/OS fehlt. Auch sie würden davon profitieren, sich in größeren DM-Feldern behaupten zu müssen.

Fazit: Nicht vergessen, für wen wir das alles machen!

Letzten Endes lassen sich alle Argumente und Schein-Gegenargumente auf einen Punkt bringen: Wir sollten nicht vergessen, für wen wir das alles machen! Das sind die Athletinnen und Athleten. Aktuell sind es aber die Athletinnen und Athleten, die massive Planungsunsicherheiten, mangelnde Wertschätzung bis hin zu Geringschätzung und die Schaffung eines Klimas von Missgunst erleiden müssen, damit Ausrichter, Kampfrichter (die große Wertschätzung verdienen) und TV einen leichteren Job haben. 

Hinzu kommen Akteure, die bewusst ein Nadelöhr bei den DM in Kauf nehmen, um den Status Quo und damit ihre eigene Position zu sichern. Das ist die falsche Prioritätensetzung. Es ist Aufgabe des DLV, die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich der Leistungssport entfalten kann. Die Athleten sollten nicht dem “Produkt” Deutsche Meisterschaften dienen, sondern die Deutschen Meisterschaften den Athleten.